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Miros unvollendeter Salto

Physikalische Ursachenforschung mit einem Augenzwinkern

Am 21. Juni 2014 machte sich Miroslav Klose unsterblich: Beim WM-Gruppenspiel gegen Ghana erzielte er sein fünfzehntes WM-Tor und stellte damit den bisherigen Rekord des Brasilianers Ronaldo ein. Wie man es von Herrn Klose kennt, bejubelte er auch dieses Tor mit einem Salto. Ausgerechnet dieses Mal jedoch misslang ihm das Kunststück. Anstatt auf den Füßen zu landen, setzte er sich unsanft auf den Rasen. Wie konnte es dazu kommen, fragt sich der Zuschauer ratlos. Wir wollen uns dieser Frage von der wissenschaftlichen Seite nähern.

Zuerst einmal können wir uns einer Erkenntnis aus der klassischen Mechanik bedienen, wonach sich die Dynamik des Saltos in zwei unabhängige Bewegungen zerlegen lässt. Die eine Teilbewegung entspricht einem "einfachen" Sprung nach vorne. Dabei kann Miros gesamter Körper auf einen einfachen Massepunkt, seinen Schwerpunkt, reduziert werden. Die andere Teilbewegung besteht aus einer Rotation des Körpers um eben diesen Schwerpunkt. Bei der Rotationsbewegung sind die technischen Fertigkeiten des Springers gefragt, zum Beispiel wie schnell und wie eng er sich zusammenrollen kann. Anhand der Vielzahl geglückter Saltos können wir getrost annehmen, dass Miro Klose die Technik des Salto-Springens völlig verinnerlicht hat. Entsprechend beschränken wir uns bei der Fehlersuche auf die translatorische Sprungbewegung.

Dazu müssen wir erst einmal verstehen, welchen Kräften ein Mensch bei solch einem Sprung ausgesetzt ist. Isaac Newton veröffentlichte im Jahre 1684 sein berühmtes Gravitationsgesetz, wonach sich zwei Massen m1 und m2 gegenseitig anziehen. Und zwar mit einer Kraft F, die umso stärker ist, je geringer der Abstand r zwischen den Massen ist. In Formeln sieht das folgendermaßen aus:

Zwar besteht durchaus die Möglichkeit, dass Miro sich auch von der einen oder anderen seiner zahlreichen Verehrerinnen auf der Tribüne angezogen fühlt. Für seine Sprungbewegung ist jedoch einzig die Erdanziehung relevant. Die Masse der Erde zieht ihn nach dem Abheben wieder zum Boden zurück. Wir können also eine der Massen in Newtons Gesetz mit der Erdmasse gleichsetzen und als Abstand r den Erdradius annehmen. Bezeichnet m Miros Gewicht, vereinfacht sich die Formel zu:

Der Parameter g = 9,81 m/s2 ist dabei die Erdbeschleunigung. Für einen Sprung auf dem Mond müssten wir übrigens die Masse des Mondes und den Mondradius zugrunde legen. Daraus ergäbe sich dann eine Mondbeschleunigung gMond = 1,62 m/s2, also etwa ein Sechstel des Erdwertes.

Wie kann man nun mit Hilfe der Erdanziehung die Bahn des Springers berechnen? Wir wollen vereinfacht annehmen, dass weder der Luftwiderstand noch mögliche andere Reibungsphänomene eine Rolle spielen. Dann kann der Sprung vollständig dadurch charakterisiert werden, dass der Springer mit einer Geschwindigkeit v in einem Winkel α nach oben abspringt. Den Rest erledigt die Erdanziehungskraft F. Die Newtonsche Bewegungsgleichung liefert einen Zusammenhang zwischen dieser Kraft F, die auf den Springer wirkt, und der daraus resultierenden Flugbahn s(t). Der Parameter t steht für die Zeit. Aus der Flugbahn kann wiederum eine von der Zeit unabhängige Ortskurve h(x) bestimmt werden, welche die Sprungweite x und die Sprunghöhe h in Verbindung setzt:

Die Sprungweite x taucht in der Formel für h(x) quadratisch auf, die Sprungbewegung verläuft also auf einer Parabel. Die maximale Sprungweite R und die dafür benötigte Zeit TR können leicht aus h(x) bestimmt werden.

Setzen wir α = 0° (das heißt ein Sprung geradewegs nach vorne), so zieht die Gewichtskraft den Springer sofort nach unten. Entsprechend ist in diesem Fall die Sprungweite R = 0. Analog kommt der Springer auch nicht vom Fleck, wenn er senkrecht nach oben springt (das heißt α = 90°). Beim Weitspringen wünscht man sich eine maximale Sprungweite. Diese wird bei α = 45° erreicht, wenn der Weitspringer seine Kraft gleichermaßen auf Höhe und Weite verteilt. Beim Salto hingegen ist von größter Wichtigkeit, möglichst lange in der Luft zu sein. Die Flugzeit TR ist am größten, wenn der Springer mit α = 90° senkrecht nach oben springt, also seine volle Kraft nach oben aufwendet. Bei einem Salto aus vollem Lauf, wie ihn Miro zelebriert, ist das natürlich nicht möglich. In der Praxis erreicht man beim Salto-Springen einen Absprungwinkel von maximal 60 Grad.

Dieses einfache Sprungmodell ist erstaunlich akkurat: Für einen Weltklasse-Weitspringer, der etwa 10 Sekunden auf 100 Meter laufen kann und dann den idealen Absprungwinkel von 45 Grad trifft, ergibt die Rechnung eine Sprungweite von 10,19 Metern. Aktuell liegt der Weltrekord im Weltsprung bei 8,95 Meter, das heißt etwa 15% unter unserer Vorhersage...

Für Miros Salto ergeben sich aus dem Modell wichtige Schlussfolgerungen. Zuerst einmal gehen in die Formel für die Sprungweite R und die Flugdauer TR die konkreten Absprungbedingungen (Geschwindigkeit und Absprungwinkel) ein. Haben vielleicht Miros Knie angesichts dieses historischen Moments gezittert und er konnte nicht so schnell anlaufen wie sonst? Oder war der Strafraumrasen zuvor so intensiv durch den nimmermüden Thomas Müller beackert worden, dass die Absprungstelle voller Matsch war und Miro nicht richtig abspringen konnte? Man weiß das alles nicht so genau. Aber die plausibelste Erklärung scheint, dass Miro im Überschwang der Gefühle einfach in einem zu flachen Winkel absprang und sich so um wichtige Flugzeit brachte.

Plausible Erklärungen sind leider häufig recht ernüchternd. Da misslingt dem Fußballgott Miro Klose sein Salto und es soll einfach nur der falsche Winkel gewesen sein? Newton hin oder her, da muss doch mehr dahinter stecken! Und weil es Spaß macht, auch mal die weniger plausiblen Pfade des Lebens zu ergründen, wollen wir uns im Folgenden auf die Suche nach Fehlerquellen machen, die eines Miroslav Klose würdig sind. Während alle beschriebenen Effekte und Berechnungen wissenschaftlich gesichert sind, sollten einige der Deutungen mit einem Augenzwinkern gelesen werden. Schließlich geht es hier um die Ehrenrettung eines WM-Torschützenkönigs, da sei uns ein wenig Originalität vergönnt. Nicht zuletzt bestand Albert Einsteins Rezept für seine kreative Originalität darin, jeden Tag mindestens eine halbe Stunde über Dinge nachzudenken, die in der Wissenschaft als nicht gesichert gelten.

Nehmen wir also an, dass Miro ideale Absprungbedingungen gewählt hat. Der einzige verbleibende Faktor in der maximalen Sprungweite R ist dann die Erdbeschleunigung g. Neben den konkreten Absprungbedingungen hängt die Sprungweite also maßgeblich von der Kraft ab, mit der die Erde Miro zum Boden zurückzieht. Normalerweise kann dieser Faktor bei der Fehlersuche ausgeschlossen werden, weil die Erde nun mal wiegt, was sie wiegt. Aber wir sprechen vom Tag, an dem Miroslav Klose sich unsterblich gemacht hat. An solch einem historischen Tag ist alles möglich, von Verschiebungen im Erdinneren bis hin zur Miros Aufnahme in den Olymp der Götter, wo andere Naturgesetze herrschen.

Hätte das WM-Spiel zwischen Ghana und Deutschland beispielsweise auf dem Mond stattgefunden, wäre Miro bei gleichen Absprungbedingungen die sechsfache Sprungzeit geblieben, um seine Salto-Rotationen auszuführen. Denn dort beträgt die Beschleunigung ja nur ein Sechstel des Erdwertes. Den Fotos zufolge fehlten Miro etwa 15 Grad, um den Salto in Perfektion zu vollenden. Mit anderen Worten, ihm fehlte etwa ein Vierundzwanzigstel der notwendigen Flugzeit. Anstatt also, wie auf Erden geschehen, nur 23 Vierundzwanzigstel der Umdrehung zu absolvieren und auf dem Allerwertesten zu landen, hätte Miroslav auf dem Mond gleich fünf Saltos bei seinem Sprung absolvieren können und hätte noch 3 Vierundzwanzigstel der Zeit übrig gehabt, um seiner Familie zuzuwinken – ein wahrhaft angemessener Jubel für solch einen Rekord.

Obschon der eine oder andere Brasilianer diese WM 2014 gerne auf den Mond geschossen hätte – das Turnier hat in Brasilien stattgefunden und wir müssen die Erdbeschleunigung von g = 9,81 m/s2 akzeptieren. Woran könnte es noch gelegen haben? Bisher haben wir mit einer Idealisierung gearbeitet, bei der Miro durch einen auf der Höhe h = 0 abspringenden Massepunkt dargestellt wird. Etwas raffinierter ist ein Modell, bei dem der Massepunkt von einer Anfangshöhe h0 > 0 abspringt. (Diese Anfangshöhe entspricht Miros Schwerpunkt.) Für solch eine Anfangshöhe lässt sich ganz analog eine Flugkurve berechnen, schließlich wirken dieselben Kräfte wie im Fall h0 = 0. Die folgende Abbildung zeigt die Formeln für die Sprungweite R und die maximale Sprunghöhe hmax.

In diesem verbesserten Modell hängen Miros Sprungweite und -höhe auch von der Lage h0 seines Schwerpunkts ab. Daran lässt sich erkennen, dass die Sprungkurve eines Dirk Nowitzki im Vergleich zu den meisten anderen Menschen schon zu Beginn einen wesentlich höheren Wert h0 aufweist. Dirk erreicht also ganz automatisch eine größere Sprunghöhe. Kein Wunder, dass seine Dunkings so easy aussehen! (Zu Dirks Ehrenrettung sei erwähnt, dass er aufgrund seines größeren Gewichts auch viel mehr Kraft benötigt, um seinen Körper auf die entsprechende Anfangsgeschwindigkeit v zu beschleunigen.)

In Miros Fall könnte eine Verschiebung seines Schwerpunkts die Ursache für den verpatzten Salto sein. Als ihm nämlich bewusst wurde, dass er soeben Ronaldos historischen Rekord eingestellt hatte (dazu noch in dessen Heimatland Brasilien), ist ihm sein Herz dann doch ziemlich in die Hose gerutscht. Die Herzmasse beträgt in der Regel 0,6 Prozent des Körpergewichts. Nehmen wir an, dass Miro ein großes Kämpferherz am rechten Fleck hat, mit einem Gewicht von 1 kg. Dann würde das Rutschen seines Herzens in die Hose (das heißt um Δx = 50 cm nach unten) eine Verschiebung seines Schwerpunktes um Δh = mHerz/m·Δx ≈ 0,7 mm bewirken. Bei einer Anlaufgeschwindigkeit von 10 m/s und einer Schwerpunkthöhe von 1,20 m ergibt sich damit eine Verminderung der Sprungweite um gerade Mal 8 Millimeter (das entspricht etwa 0,1%). Dieser Effekt könnte den vermurksten Salto also nur plausibel erklären, wenn Miro ein Löwenherz hätte…

Aber noch sind wir mit unserem Salto-Latein nicht am Ende. Vielleicht lässt sich mit der vermeintlich konstanten Erdbeschleunigung g = 9,81 m/s2 ja doch noch etwas aushandeln! Die Erde dreht sich bekanntlich pro Tag einmal um ihre eigene Achse. Diese Rotation erzeugt eine Zentrifugalkraft, die zusätzlich zur Erdanziehungskraft auf uns Bewohner der Erdoberfläche wirkt. Der Effekt der Zentrifugalkraft macht sich nahe dem Äquator dadurch bemerkbar, dass die effektive Erdbeschleunigung auf einen Wert von 9,745 m/s2 absinkt. An diese Abweichung von 0,7 Prozent gegenüber europäischen Verhältnissen hatte sich Miro bei vielen Saltos im Trainingslager in Santo André langsam gewöhnt. Wäre es nicht denkbar, dass die Welt angesichts Miros magischen Rekords so außer sich vor Freude geriet, dass sie für einen Moment komplett vergaß, sich zu drehen? In diesem Fall wäre der arme Miro ganz plötzlich mit einer um fast 1 Prozent erhöhten Erdbeschleunigung konfrontiert gewesen – völlig unkalkulierbare Salto-Bedingungen selbst für einen Unsterblichen wie Miroslav Klose! Und jetzt mal ehrlich: Klingt diese Fehlerdiagnose nicht standesgemäßer als die lapidare Hypothese, dass ein WM-Torschützenkönig falsch abspringt oder gar ans Ende seiner Kräfte kommen könnte? In diesem Sinne wünschen wir Miro noch viele erfolgreiche Saltos und weltbewegende Erlebnisse.

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