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Einsicht am Arsch der Welt

Für Jens

Mal wieder wandere mit der Aufmerksamkeit durch meinen Körper ­­– Empfindungen über Empfindungen in unterschiedlichsten Facetten soweit mein inneres Auge reicht. Ich habe längst durchschaut, dass jede Körperempfindung dieselbe zentrale Eigenschaft besitzt: Sie entsteht irgendwann, sie bleibt eine Weile bestehen, und irgendwann vergeht sie wieder. Während ihres begrenzten Lebenshorizonts erzählt sie vom Wandel – dem einen oder anderen biochemischen oder energetischen Wandel, der sich an der betreffenden Körperpartie gerade zuträgt. Die allermeisten meiner Körperempfindungen fristen ein ziemlich unbedeutendes Dasein – meistens bin ich zu sehr mit anderen Dingen beschäftigt, um ihre Botschaft wahrzunehmen. Ungesagter Dinge verschwinden sie wieder in der Bedeutungslosigkeit. Manchmal hat eine Körperempfindung aber Glück, und meine Aufmerksamkeit wendet sich einer Körperpartie genau in dem Moment zu, in dem dort eine Empfindung das Licht der Welt erblickt. Wenn ich dann genau hinhöre, lässt sich mich gütig an ihrer weisen Botschaft des Wandels teilhaben.

Der Lebenshorizont einer Körperempfindung – ich bin fasziniert von dieser Idee. Und überrascht stelle ich fest, dass es tatsächlich zahlreiche Situationen gibt, in denen ich das gesamte Leben einer einzigen Körperempfindung hautnah miterleben kann. Zum Beispiel lässt sich eine Mücke auf meinem Arm nieder – ein Jucken entsteht. Ich beobachte die Geburt des Juckens; ich beobachte, wie das Jucken in seinen raumzeitlichen Variationen die betreffende Stelle meines Armes belebt; ich beobachte, wie es sich eine Weile mehr oder weniger beständig in meinem Körpergebilde am Leben hält, wie es irgendwann schwächer und schwächer wird und wie es irgendwann überhaupt nicht mehr spürbar ist. Das Jucken hat seinen Lebensdienst vollendet und ist gestorben.

Diese neue, empathische Haltung gegenüber meinen Körperempfindungen erweitert meine Bodyscans um eine überraschend neue Perspektive. Ich wandere Stück um Stück durch meinen Körper und lausche in ehrfürchtiger Stille, was jede Empfindung, der ich begegne, mir zu erzählen hat. Von überall her raunen sie mir ihre Lebensgeschichten zu – Geschichten, die im wahrsten Sinne des Wortes bewegend sind; Geschichten, die vom stetigen Fluss des Lebens erzählen; jede Geschichte ihr eigenes kleines Meisterwerk. Dabei fällt mir auf, dass aus dieser Perspektive die Tatsache, dass manche Empfindungen angenehm und andere Empfindungen unangenehm sind, keinerlei Auswirkungen hat. Alle Geschichten, egal ob sie von schmerzhaftem Wandel oder von ekstatischem Wandel handeln, sind es gleichermaßen wert, gehört zu werden. Gebannt lausche ich ihnen allen in der gebotenen, nichtreaktiven Stille. Vielmehr fühlt es sich an, als wäre die hedonistische Tönung der Empfindungen ein wertfreies Charakteristikum wie etwa eine Farbe. Rote Empfindungen, sattgrüne Empfindungen, schwarze Empfindungen – keine Farbe ist besser als die andere. Die subjektive Tönung einer Empfindung ist lediglich einer ihrer Wesensaspekte, etwas, das sie einzigartig und liebenswert macht.

Das Bild mit den Empfindungsfarben lässt mich nicht mehr los. Ich beginne, größere Körperpartien auf einmal in den Fokus meiner Aufmerksamkeit zu rücken – wovon erzählen etwa die Empfindungen meines gesamten Unterarmes? Überrascht stelle ich fest, wie sich die einzelnen Farbschattierungen der unzähligen Empfindungen an meinem Arm zu einem prachtvollen Kunstwerk zusammenfügen, jede Empfindung liefert ihren spezifischen Pinselstrich zum großen Ganzen. Mein Arm – eine prachtvolle Farbsymphonie, die den ständigen Wandel meines Wesens zum Grundthema hat. In genau diesem Moment verstehe ich, dass mein eigenes Leben sich nur sehr unwesentlich vom Leben einer Körperempfindung unterscheidet. Auch ich wurde in ein ziemlich komplexes System namens Erde hineingeboren, auch ich wirke über eine begrenzte Zeit hinweg auf Erden, und auch ich sterbe dann. Auch ich bin Ausdruck des ständigen Wandels, der sich durch alles zieht wie ein roter Faden. In mir taucht das Bild eines Weltgeists auf, dessen Körper aus unserer Erde besteht und dessen Empfindungen die Geschehnisse auf dem Erdball sind. Vielleicht hat der Weltgeist ja auch kürzlich Vipassana-Meditation für sich entdeckt und beobachtet nun eifrig seinen Körper und dessen Empfindungen. Wie würde ich, wie würde sich mein Wirken wohl für ihn anfühlen? Ein Kitzeln auf der linken Pobacke vielleicht? Benedikt, das ganze Leben dieses Benedikt in all seiner Komplexität, mit allen Aufs und Abs, allen Errungenschaften und allem Scheitern  – nichts als ein Jucken am Arsch des Weltgeists.

So wichtig und so lebenswert mir mein eigenes Leben auch erscheinen mag – in dieser Betrachtungsweise ich bin eine ziemlich kleine Hausnummer, die mit allergrößter Wahrscheinlichkeit entsteht und vergeht, ohne dass der Weltgeist Notiz davon genommen hätte. Schließlich gibt es Dinge auf dieser Welt, die größere Aufmerksamkeit erregen. Ich stelle mir etwa vor, wie ein Donald Trump als ziemlich aufdringliches Stechen in der Nierengegend daherkommt, dem sich der Weltgeist nur schwer entziehen kann. Und der Nahe Osten wäre wohl der ewig verspannte Nacken des Weltgeists (ein gordischer Knoten, in dem jede Partei darauf besteht, erst loszulassen, wenn die andere Parteien auch loslassen). Und welche Empfindungen erfährt der Weltgeist wohl, wenn im Kölner Dom das eindrucksvolle Eingangskyrie der H-Moll-Messe von Bach ertönt? Gänsehaut am Weltgeistrücken? Angesichts solcher Intensitätslawinen geraten kleine Fische wie ich schnell ins Hintertreffen.

Aber wer weiß: Vielleicht fügt es sich ja, dass die Aufmerksamkeit des Weltgeists genau in dem Moment dessen Po streift, an dem dort mein Leben aufjuckt. Und wenn er dann aufmerksam meiner Lebensgeschichte (die natürlich diese Erzählung beinhaltet) lauscht, könnte ihm ganz ähnlich wie mir die Einsicht dämmern, dass auch sein Wirken nichts ist als ein kurzes Sternschnuppen-Dasein in einem noch viel größeren Universumsgeist…

 

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