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Wie Sisyphos dem Teufel ein Schnippchen schlug

Für Jens.

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Sisyphos war den Göttern schon immer ein Dorn im Auge gewesen. Wiederholt war es ihm gelungen, dem Tod von der Schippe zu springen. Und auch sonst pfuschte er den Göttern gehörig ins Handwerk. Irgendwann wurde es ihnen zu bunt. Sie beauftragten den Teufel, die Nervensäge Sisyphos in die Unterwelt mitzunehmen und ihm dort für seine Renitenz eine wahrhaft höllische Strafe aufzubürden: Sisyphos sollte auf ewig einen Felsblock einen Berg hinaufwälzen, der jedes Mal kurz vor Erreichen des Gipfels wieder ins Tal hinabrollt. Eine körperlich grenzwertige und dabei so sinnlose Tätigkeit ohne absehbares Ende ‑ mit diesem Martyrium wollten die Götter Sisyphos verdeutlichen, wer hier seine Beine unter wessen Tisch streckt.

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Die Strafe zeigte Wirkung. Ein ums andere Mal quälte sich Sisyphos den Berg hinauf. Ein ums andere Mal rollte der Fels zurück ins Tal. Die ersten Tage hielt der Höllenneuling diesem Unsinn trotzig stand. Dann aber begann sein Entschluss, den Göttern gegenüber nicht klein beizugeben, zu bröckeln. Als er wieder einmal ächzend vor Schmerz und entnervt von seinem Schicksal am Gipfel angekommen war, brach die verzweifelte Erschöpfung offen aus ihm heraus. So konnte das doch nicht bis in alle Ewigkeit weitergehen! Kurzum, er fühlte sich hundsmiserabel. Der Teufel war sehr zufrieden mit seinem neuen Schützling. Sisyphos Herz pochte wie wild von der körperlichen Anstrengung und der inneren Erregung. "Mein Herz teilt mein Schicksal", fiel ihm tröstend auf, "tagein tagaus immer dasselbe ‑ Blut reinlassen, Blut rauspumpen, Blut reinlassen, Blut rauspumpen." Aber die Arbeit seines Herzens ergab wenigstens einen Sinn, weil es stets frisches Blut durch die Adern pumpt und so den Körper mit Lebensenergie versorgt. Aber bei Sisyphos? Immer genau dasselbe, immer derselbe Fels, immer derselbe Berg. Kein Ende in Sicht. Ein Gefühl bodenloser Ausweglosigkeit überfiel ihn aufs Neue.

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Beim anschließenden Hinablaufen ließ ihm das Bild seines Herzens keine Ruhe. Klar, der Fels und der Berg waren stets dieselben. Aber wie stand es um ihn selbst? Gab es da nicht die eine oder andere Abwechslung? Zunächst fiel ihm auf, dass er beim Aufstieg in einer völlig anderen emotionalen Verfassung war als beim Abstieg. Den Berg hinauf voller Sehnsucht, endlich den Gipfel zu erreichen. Kurz vor dem Gipfel ein Gefühl großer Euphorie, gefolgt von tiefster Enttäuschung angesichts des erneut hinabrollenden Felsens. Der Abstieg war zwar nicht besonders anstrengend, aber Sisyphos Wissen um den nahenden erneuten Aufstieg verpfuschte ihm gehörig die Laune. Ein ständiges Wechselbad der Gefühle also. Von wegen immer dasselbe!

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Und selbst die einzelnen Aufstiege waren sich niemals gleich. Mal taten ihm die Fersen weh. Mal das linke Knie. Mal hatte er keinerlei körperliche Beschwerden. Einmal war vom Heraufschieben des Felsens eine Blase an Sisyphos Hand entstanden. Mit jeder weiteren Runde war die Blase angeschwollen, bis sie irgendwann aufplatzte. Die anschließenden Runden waren besonders unangenehm gewesen, weil der Fels wie Feuer auf dem rohen Fleisch brannte. Bald hatte sich aber eine schützende Hornhaut ausgebildet und Sisyphos Blasensorgen traten wieder in den Hintergrund. Von wegen also immer derselbe Aufstieg! So kam es, dass die Idee des Wandels erstmals Einzug in Sisyphos Geist erhielt. Klar waren die Wandlungsoptionen in seinem Fall recht übersichtlich. Aber es ließ sich nicht leugnen, dass die Dinge in seinem Inneren stets in Bewegung waren.

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Nach ein paar Hundert weiteren Auf- und Abstiegen wurde Sisyphos von einer weiteren Einsicht heimgesucht: Das wirklich Beschwerliche an seiner Situation war überhaupt nicht das ewige Rauf und Runter! Richtig schlimm wurde es dadurch, dass er in emotionalen Aufruhr über sein Schicksal geriet und in jedem Moment innerlichen Widerstand gegenüber den unvermeidlichen äußeren Ereignissen leistete. Durch das emotionale Aufbauschen seiner misslichen Lage wurde aus einfacher Ausweglosigkeit unerträgliche Ausweglosigkeit ‑ ein kleiner aber feiner Unterschied, der das Leben in der Hölle aber erst so richtig zur Hölle macht. Also beschloss Sisyphos, aus diesem Teufelskreis der Gefühlsreaktionen auszusteigen. Fakt war, dass er am Auf und Ab seines Lebenswegs nichts ändern konnte. Und Fakt war, dass sein Ärger, seine Sehnsucht und seine Verzweiflung nicht das Geringste an diesem Weg änderte. Also übte sich Sisyphos während der folgenden tausend Auf- und Abstiege darin, in eine wohlwollende Distanz zu seinen Emotionen zu gehen und sich nicht von ihnen überfluten zu lassen.

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Mit zunehmender Übung gelangte Sisyphos zu der Überzeugung, dass es total unsinnig war, sich über einen Aufstieg zu ärgern, der mit absoluter Sicherheit früher oder später zu Ende geht. Und die Sehnsucht nach dem Gipfel lässt den Aufstieg keine Sekunde früher zu Ende gehen. Der Gipfel kommt zur rechten Zeit, Sehnsucht hin oder her. Wozu also dieses ganze ausweichende Gefühlsschäumen im Geist, wenn der stetige Wandel doch alles fest im Griff hat? Und noch etwas fiel ihm auf. Durch seine bisherigen Tob- und Sehnsuchtsanfälle war sein Geist stets in größte Unruhe verfallen. Die Emotionen waren so überwältigend gewesen, dass alles andere in ihm und um ihn herum an Bedeutung verlor. Jetzt, wo er sich nicht mehr so leicht in seinen Gefühlen verhedderte, konnte er sich plötzlich auf Nuancen seines Erlebens konzentrieren, die ihm bisher nie aufgefallen waren. "Auf den ersten Blick sah es so aus, als würden sich meine Wege exakt wiederholen", dachte er bei sich, "aber dieser Blick erweist sich als unhaltbar, sobald ich eine andere, subtilere Sichtweise einzunehmen vermag. Vielleicht habe ich ja Glück und diese neue Sichtweise ist weniger ernüchternd als meine bisherige. Ich will es auf einen Versuch ankommen lassen." Mit diesem Vorsatz im Gepäck lehnte sich Sisyphos innerlich zurück und sah mit feingeistigem Blick dem unvermeidlichen Spiel des Wandels zu.

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Schnell zeigte sich, dass Sisyphos mit seiner Vermutung ins Schwarze getroffen hatte. In seinem Inneren gab es unendlich viele Details zu erforschen, es war das reinste Wunderland! Sein stetig an Klarsicht gewinnender Geist ermöglichte es ihm, immer neue dunkle Ecken seines Wesens auszuleuchten. So entdeckte er zum Beispiel, dass die Sehnsucht während eines Aufstiegs mitnichten gleichbleibend war. Vielmehr begann sie schleichend-leise und wohlig-warm. So richtig an Fahrt nahm sie nur auf, sobald sich Sisyphos von ihren Versprechungen anstecken ließ. Ausgelöst wurde die Sehnsucht meist durch körperliche Beschwerden, denen er durch ein möglichst baldiges Erreichen des Gipfels zu entkommen suchte. Aber auch die Beschwerden waren bei genauem Hinsehen nicht so absolut, wie es im ersten Moment wirkte. Machte sich etwa eine Verspannung in der Fußsohle bemerkbar, so stellte Sisyphos bei genauerem Hinsehen fest, dass die Spannung von einer Empfindung des Pochens überlagert war. Und fühlte er nicht auch Wärme im verspannten Gebiet?

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Selbst akute Schmerzen ließen sich in der Detailperspektive nicht so klar lokalisieren, wie Sisyphos das erwartet hatte. Vielmehr fühlte sich die schmerzende Stelle an wie ein dichtes Spinnennetz fies aneinander reibender Nervenfäden. Aber welcher Faden war nun sein Schmerz? Als er die Fäden einzeln unter die Lupe nahm, konnte er lediglich ein leichtes Prickeln ausmachen, und das war paradoxerweise eher angenehm als unangenehm. Er konnte es drehen und wenden, wie er wollte: Der Schmerz hatte keinen klaren Aufenthaltsort. Mehr noch: In der Detailperspektive war er ganz und gar nicht bedrohlich-schmerzhaft, sondern erwies im Gegenteil als reichlich faszinierend. Hier ein kurzes Stechen, da ein Jucken, dort eine Kontraktion. Permanenter Wandel allen Ortens!

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So zerteilte Sisyphos seine innere Erfahrungswelt in immer kleinere Häppchen, untersuchte diese sorgsam und fand sich jedes Mal aufs Neue darin bestätigt, dass auch auf dieser Detailebene das Gesetz des stetigen Wandels verlässlich seinen Dienst tut. Jede erneute Bestätigung der Unbeständigkeit allen Erlebens nährte seinen Gleichmut. Warum die Dinge anders haben wollen als sie sind, wenn sie doch eh ständig im Wandel sind? Entstanden beim Aufstieg erste Anzeichen von Sehnsucht, lächelte er und wusste: "Auch das wird vorübergehen." Tauchten Schmerzen auf, lächelte er und wusste: "Auch das wird vorübergehen." Bemerkte er einen Anflug von Euphorie im Geist, lächelte er und wusste: "Auch das wird vorübergehen." Je routinierter Sisyphos seine mentale Balance aufrecht halten konnte, desto scharfsinniger wurde sein Geist und desto facettenreicher sein Erleben. Und mit einem Mal fiel Sisyphos etwas ganz Erstaunliches auf. Vor lauter Detailbeobachtung hatte er völlig vergessen, wie er dabei pausenlos seine Auf- und Abstiege fortgeführt hatte. Angesichts der immer feiner wahrnehmbaren Realitäten in seinem Inneren war seine monotone Basistätigkeit völlig in den Hintergrund geraten.

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Die kuriose Tatsache, dass er für eine Weile tatsächlich sein Höllenschicksal aus den Augen verloren hatte, bedurfte natürlich einer detaillierten Überprüfung. Zwar konnte er sein ewiges Wandern durchaus noch wahrnehmen, aber es war in weite geistige Ferne gerückt und lief im Vergleich zu den feineren Erlebnisebenen wie in Zeitlupe ab. Wie das langatmige Heben und Senken des Meeresspiegels aufgrund der Gezeiten im Vergleich zu den Millionen kleinen Wellen an der Meeresoberfläche, die einander in graziler Raffinesse durchdringen. Und den bunten Fischschwärmen, die direkt darunter auf scheinbar unergründlichen Bahnen durchs Wasser jagen. Sisyphos alternativlose Auf- und Abstiege hatten sich zur Hintergrundmusik eines Films über den schillernden Ozean in seinem Inneren gewandelt. Die Musik gab seinem Lebensweg den Grundtakt vor, aber die konkrete Handlung hatte ihren Schrecken verloren. Für Sisyphos machte es keinen Unterschied mehr, ob er bergauf oder bergab lief oder ob er am Gipfel eine kurze Verschnaufpause machte. Mit nach innen gerichtetem Blick bot ihm jegliche Situation eine prima Gelegenheit, den stetigen Wandel in seinem Inneren zu beobachten.

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Bei so viel Wandel konnte auch das Außen nicht widerstehen. Im Detailblick enthüllte der Fels erste Wandlungsanzeichen: Hier ein abgesprungener Steinbrocken, da eine Delle. Auch der scheinbar immergleiche Berg, den Sisyphos hinauf- und hinabstieg, zeigte sich zunehmend von seiner unbeständigen Seite. Sisyphos drang tiefer und tiefer in die subtilsten Realitäten eines jeden Moments. Sein Geist wurde immer feinfühliger. Die Fischschwärme in seinem Inneren zerstoben und er konnte einzelne Fische ausmachen. Bald war jeder Fisch gedanklich seziert, bis nur noch Wassermoleküle und ein paar andere chemische Elemente übrig waren. Bald war sein Geist so rein, dass er die Wassermoleküle im Takt ihrer Schwingungsfrequenzen tanzen sah. Und bald hatte er die ultimative Ebene der Realität erreicht, auf der keinerlei Festigkeit existiert und alles Erleben in die Grundfrequenzen des fortwährenden Wandels zerlegt ist. Alles in ständiger Bewegung. Alles im Fluss. Die ganze Welt im Innen. Die Ausweglosigkeit seiner Lebenssituation konnte Sisyphos nicht mehr schrecken. Er hatte der unendlichen Monotonie seiner Höllenaufgabe das universelle Gesetz des stetigen Wandels abgetrotzt. Er hatte den Teufel ausgetrickst. Da sahen auch die Götter ein, dass gegen diesen Sisyphos einfach kein Kraut gewachsen ist. Die Unendlichkeiten des Himmels und der Hölle verschmolzen in Sisyphos Innerem zu einem unermesslichen Jetzt. Ich stelle mir Sisyphos als befreiten Menschen vor, der voll Gleichmut dem Rausch des Lebens lauscht.

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(Alle Abbildungen sind dem großartigen Online-Tutorial "Powers of 10" des National High Magnetic Field Laboratory entnommen.)

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