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Nachdenken über Goenka-Vipassana

Wie funktioniert eigentlich Vipassana-Meditation nach S.N. Goenka, inwiefern unterscheidet sie sich von einer herkömmlichen Gewahrseinsmeditation und was spricht für die Wirksamkeit dieser speziellen Meditationstechnik? In der Folge möchte ich unter dem Begriff ›Gewahrseinsmeditation‹ eine Meditationsform verstehen, bei der man seine Achtsamkeit nicht auf ein bestimmtes Objekt richtet, sondern sich möglichst vorbehaltlos aller auftauchender Sinneseindrücke (zum Beispiel ein Geruch, ein Hautkontakt oder auch ein Gedanke) bewusst wird, ohne darauf zu reagieren. Dafür kann es sinnvoll sein, den Geist im Vorfeld etwas zu beruhigen – zum Beispiel durch eine Fokusmeditation mit dem natürlichen Atem als Meditationsobjekt.

Erster Unterschied: Wissen um Unbeständigkeit

Bei Goenka-Vipassana ist der Meditierende aufgefordert, nicht nur achtsam in Bezug auf Sinneseindrücke zu sein, sondern sich gleichzeitig stets die Unbeständigkeit allen Erlebens zu vergegenwärtigen. Ein Sinneseindruck wird also nicht vorbehaltlos erfahren, sondern im Lichte seiner Unbeständigkeit ›weise‹ interpretiert. Als Inspiration für diese Erweiterung lassen sich die Lehrreden des Buddha heranziehen, in denen stets die zwei Pali-Begriffe ›Sati‹ (Achtsamkeit) und ›Sampajañña‹ (rechtes Verständnis) gemeinsam genannt werden, wenn es um die konkrete Meditationspraxis geht. (Unter den Experten herrscht ziemliche Uneinigkeit darüber, was diese beiden Pali-Begriffe genau bedeuten. Ich maße mir nicht an, ihre wahre Bedeutung zu kennen. Hier kommt es mir nur darauf an, dass in den Lehrreden zwei unterschiedliche Aspekte benannt werden.)

Das zusätzliche Kontemplationsobjekt ›Unbeständigkeit‹ mag zunächst etwas künstlich wirken. Und im Zuge der konkreten Meditationspraxis mutet das permanente Vergegenwärtigen dieser Eigenschaft bisweilen tatsächlich etwas künstlich an. An dieser Stelle sei jedoch angemerkt, dass solch ein Vorgehen seine tatsächliche Wirkung erst in Kombination mit dem folgenden zweiten Unterschied entfaltet – dann wird der abstrakte Tatbestand der Unbeständigkeit allen Erlebens empirisch ›befüllt‹...

Zweiter Unterschied: Einschränkung auf Körperempfindungen

Bei Goenka-Vipassana wird die Achtsamkeit ganz bewusst nur auf eine bestimmte Klasse von Geistesinhalten gerichtet, nämlich auf Körperempfindungen. Natürlich tauchen bei Goenka-Vipassana im Zuge einer Meditation auch andere Sinneseindrücke im Bewusstsein des Meditierenden auf – aber nachdem man sich dieser Eindrücke gewahr wurde, bringt man die Aufmerksamkeit bewusst zum Körper und dessen Empfindungen zurück.

Warum diese Einschränkung auf Körperempfindungen? Der erste Grund ist ganz pragmatischer Natur: Anhand von Körperempfindungen lässt sich der abstrakte Tatbestand der Unbeständigkeit allen Erlebens relativ einfach ›nachprüfen‹. Probiere es selbst aus: Kein Jucken dauert ewig! So wird aus der intellektuellen Einsicht, dass nichts im Leben für immer ist, ein wertvoller, am eigenen Körper erfahrbarer Erfahrungsschatz.

Der zweite Grund ist etwas komplexer: Goenka-Vipassana basiert auf der Hypothese, dass Körperempfindungen eine zentrale Rolle bei der Organisation der menschlichen Psyche spielen. Sie werden als ursprüngliche Ausdrucksform affektiv-archaischer Zustände wie Lust, Aggression oder Angst verstanden. Entsprechend wird ihnen eine wesentliche Rolle bei Konditionierungsprozessen beziehungsweise reflexhaften Verhaltensweisen zugeschrieben. In der Sichtweise von Goenka-Vipassana ist ein Teil des Geistes ständig in Kontakt mit dem Körper, registriert alle dort auftretenden Empfindungen und reagiert entsprechend des hedonistischen ›Beigeschmacks‹ der jeweiligen Empfindung mit Ablehnung oder mit Verlangen: Fühlt sich eine im Zuge einer Erfahrung auftretende Körperempfindung unangenehm an, so reagiert der Geist mit Aversion und versucht, ähnliche Erfahrungen zukünftig zu meiden; fühlt sich die Körperempfindung hingegen angenehm an, so reagiert der Geist mit Verlangen und setzt alles daran, das Erlebte erneut zu erleben. Die Hypothese, auf der Goenka-Vipassana basiert, besagt also unter anderem, dass die Konditionierung des Geistes nicht unmittelbar durch eingehende Sinneseindrücke wie ein Geräusch oder eine Berührung bedingt ist, sondern vielmehr durch die Körperempfindungen, die der jeweilige Sinneseindruck im Körper auslöst! So sind Körper und Geist auf sehr intuitive Weise eng miteinander gekoppelt – eine These, die sich auch in der Medizin und in psychotherapeutischen Schulen zunehmender Beliebtheit erfreut.

Das erklärte Ziel von Goenka-Vipassana besteht nun darin, den eben beschriebenen Prägungsmechanismus auf der tiefstmöglichen Ebene auszuhebeln – das heißt auf der Ebene der Körperempfindungen. Ein untrainierter Geist kann jedoch nur einen verschwindend kleinen Ausschnitt des Körperempfindungsspektrums bewusst wahrnehmen – beispielsweise Schmerzen, Spannungen oder ein offensichtliches Jucken. Der allergrößte Teil der Prägungsprozesse verläuft unbewusst und entzieht sich so jeglicher Einflussnahme. Entsprechend wird man bei Goenka-Vipassana schrittweise dazu angeleitet, die bewusste Wahrnehmung in Bezug auf alle Arten von Körperempfindungen (von grob bis subtil, von angenehm bis unangenehm, von kurzzeitig bis lang anhaltend) stetig zu verfeinern, um so einen möglichst weiträumigen Zugang zum regen Informationsaustausch innerhalb des autonomen Nervensystems beziehungsweise der tief verwurzelten Prägungen zu erlangen – und im besten Fall regulierend darauf einzuwirken.

Inwiefern ein Zusammenhang besteht zwischen Körperempfindungen und dem Pali-Begriff ›Vedana‹, der in den Lehrreden des Buddha eine zentrale Rolle spielt, vermag ich nicht kompetent zu beurteilen. Ich persönlich halte es für wahrscheinlich, dass der Begriff ›Vedana‹ tatsächlich Körperempfindungen meint – oder zumindest eine bestimmte Klasse beziehungsweise einen Aspekt davon. Aber Buddha hin oder her: Dass Körperempfindungen eine direkte – und mitunter extrem starke – Auswirkung auf den momentanen Geisteszustand haben, ist für mich eine gesicherte Erfahrungstatsache. Das ist also nichts, was man glauben oder wissenschaftlich beweisen müsste – vielmehr kann jeder Mensch diesen Tatbestand ganz unmittelbar im eigenen Geist überprüfen. Die einzige Voraussetzung dafür ist, dass der Geist eine gewisse ›Grundruhe‹ aufweist, wie sie sich beispielsweise einstellt, wenn man für 3 bis 4 Tage Anapana-Meditation praktiziert (eine Fokusmeditation mit dem natürlichen Atem als Meditationsobjekt). Andernfalls gehen Phänomene, wie ich sie in der Folge beschreibe, im lauten Alltagsgeschnatter des Geistes einfach unter. Wer sich aber die Mühe macht und den Geist entsprechend schärft, wird unweigerlich ähnliche Erfahrungen machen wie in den folgenden beiden Beispielen beschrieben.

Verschiedene Körperpartien, verschiedene Geisteszustände

Mit einem entsprechend gesammelten Geist ist es mir relativ problemlos möglich, meine Aufmerksamkeit über mehrere Minuten hinweg auf die Empfindungen in meinen Händen zu richten und mir in aller Seelenruhe die Unbeständigkeit dieser Empfindungen zu vergegenwärtigen. Sobald ich jedoch beginne, meine Aufmerksamkeit die Arme entlang und dann weiter durch den Körper zu führen, stelle ich häufig fest, dass sich der Zustand meines Geistes bisweilen drastisch verändert – dass zum Beispiel viele ablenkende Gedanken auftauchen oder dass der Geist mir richtiggehend ein ›Lass mich doch damit in Ruhe!‹ entgegenbellt, sobald ich versuche, mir klarzumachen, dass auch die aktuell erlebte Körperempfindung unbeständig ist. Springe ich indes mit der Aufmerksamkeit zu meinen Händen zurück, beruhigt sich der Geist binnen kurzer Zeit und die Einsicht in die Unbeständigkeit allen Erlebens geht mir wieder ganz leicht von der Hand. Diese Erfahrung zeigt meines Erachtens zweierlei:

1) Es besteht eine starke Korrelation zwischen der Wahrnehmung von Körperempfindungen und geistiger Aktivität. Mit anderen Worten: Ein Teil des Geistes reagiert sehr unmittelbar (mit Abwehr oder mit Verlangen) auf das jeweilige Körpererleben. 

2) Die konkrete Reaktion hängt stark von der jeweils erlebten Körperempfindung ab. Insbesondere gibt es Körperzustände – wie in meinen Händen –, die als mehr oder weniger neutral erlebt werden, so dass keine Reaktion getriggert wird und der Geist in einem ruhigen Zustand verweilen kann. 

Nun liegt es nahe, dass der Geist nicht nur dann auf Körperempfindungen reagiert, wenn ich gerade meine Achtsamkeit auf die betreffende Empfindung gerichtet habe. Vielmehr muss man meines Erachtens davon ausgehen, dass dieses hedonistisch geprägte Reaktionsschema auf Körperempfindungen zu jeder Zeit und an jeder Partie des Körpers auf einer unbewussten Ebene stattfindet. In dem Moment jedoch, wenn ich an einer konkreten Körperpartie mit vollem Bewusstsein miterlebe, wie der Geist auf die entsprechenden Empfindungen reagiert, wird dieses Schema plötzlich ›greifbar‹ – und es entsteht die wertvolle Möglichkeit, ihm den Wind aus den Segeln zu nehmen. Genau das ist die Grundidee von Goenka-Vipassana.

Die hedonistische Besetzung von geistigen Inhalten

Der zweite Erfahrungswert betrifft mentale Inhalte, das heißt Gedanken und (bestimmte Aspekte von) Emotionen. In diesem Kontext stelle ich immer wieder fest, dass es mit einem hinreichend konzentrierten Geist verhältnismäßig einfach ist, das Auf- und Abtauchen solcher Inhalte im Geist zu beobachten. Mit anderen Worten: Gedanken und Emotionen sind recht ›empfänglich‹ für die Einsicht, dass sie unbeständig sind. Solange ich also mit meiner Aufmerksamkeit bei rein geistigen Inhalten verweile, gelingt es mir im Normalfall ziemlich gut, gleichmütig alle auftauchenden Inhalte zu beobachten und mir deren Unbeständigkeit zu vergegenwärtigen. Sobald ich aber ›eine Ebene tiefer‹ gehe und meine Achtsamkeit den in diesem Moment vorherrschenden Empfindungen in meinem Körper zuwende, sieht die Sache plötzlich ganz anders aus – da schaukeln sich Gedanken ziemlich unvermittelt hoch und/oder ich vernehme großen Ärger über die vermeintliche Vergeblichkeit meiner Meditationspraxis, über die konkrete Empfindung oder sonst irgendetwas. Dahin ist der besonnen-ruhige Gleichmut, der mich eben bei der Gedankenkontemplation noch begleitet hatte. Aus dieser Erfahrung bin ich geneigt zu schließen, dass 

a) Gedanken und Emotionen an sich eine vergleichsweise geringe hedonistische Tönung aufweisen;  

b) viele meiner Gedanken und Emotionen das Resultat einer körperlich erlebten Grundstimmung sind.

Es ist ganz sicher lehrreich, Gedanken und Emotionen als solche zu kontemplieren. Aber wenn ich deren Kontemplation und mein Erleben der zeitgleich vorherrschenden Körperempfindungen einem direkten Vergleich unterziehe, scheint mir die Kontemplation mentaler Inhalte am ›Kern des Problems‹ vorbeizuschrammen – entsprechend würde ich dieser Form der Kontemplation eine vergleichsweise geringe ›befreiende‹ Wirkung zuschreiben. Da unsere Kultur ganz generell dazu tendiert, kognitive Inhalte höher zu bewerten als Körpererleben, scheint es mir verständlich, warum sich viele Meditierende dennoch mehr für Gedanken und Emotionen als für Körperempfindungen interessieren. Hinzu kommt, dass die Kontemplation von Körperempfindungen wesentlich unbequemer ist als die Kontemplation von Gedanken und Emotionen. So entdecke ich auch bei mir selbst eine stetige Neigung, lieber mit mentalen Inhalten als mit Körperempfindungen zu arbeiten. Das ändert jedoch nichts an der Erfahrungstatsache, dass mit den Körperempfindungen eine ›tiefere‹ Ebene des Geistes existiert und dass diese Ebene maßgeblichen Einfluss auf das Entstehen von Gedanken und Emotionen hat. Entsprechend habe ich es mir zur Angewohnheit gemacht, beim Beobachten eines Gedankens oder einer Emotion direkt die Brücke zum Körper zu schlagen: »Dieser Gedanke ist genauso unbeständig wie diese oder jene Empfindung...« Dadurch gelange ich verlässlich zum Körper zurück und bin mir dennoch mentaler Inhalte (und deren Unbeständigkeit) bewusst.

Abschließend möchte ich nochmals betonen, dass es sich bei diesen Beispielen um reine Erfahrungstatsachen handelt! Und dass ich diese Erfahrungen nur verifizieren kann, wenn mein Geist entsprechend konzentriert ist. Mein Alltagsbewusstsein ist beschränkt auf eine scheinbare Wirklichkeit, in der die beschriebenen Phänomene – und folglich auch ein damit einhergehendes Problembewusstsein – keinen Platz haben. Ich muss gewissermaßen erst ›in die Tiefe‹ gehen, um die tatsächlichen Abläufe im Geist verstehen zu können und in diesem Zuge ein Problembewusstsein dafür zu entwickeln, welch starken Einfluss Körperempfindungen auf mein geistiges Erleben haben.

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